Veröffentlicht am Mai 15, 2024

Die junge Generation in Deutschland gestaltet die Zukunft nicht durch radikale Ideologien, sondern durch das tägliche Aushandeln von Widersprüchen zwischen hohen Werten und der komplexen Realität.

  • Nachhaltigkeitsansprüche kollidieren mit den Realitäten einer digitalen Konsumgesellschaft.
  • Traditionen werden nicht verworfen, sondern mit globalen und diversen Einflüssen zu etwas Neuem synthetisiert.

Empfehlung: Um das moderne Deutschland zu verstehen, muss man den Fokus von alten Klischees auf diese Spannungsfelder richten, in denen die eigentliche kulturelle und soziale Innovation stattfindet.

Denkt man an Deutschland, erscheinen oft Bilder von Lederhosen, präzisen Ingenieuren und unbegrenzten Autobahnen. Doch dieses Bild verblasst angesichts einer neuen Realität, die in den Städten und im digitalen Raum Gestalt annimmt. Es ist die Realität der „Generation Greta“, einer Jugend, die oft pauschal als klimaaktivistisch, dauer-online und traditionsfeindlich abgestempelt wird. Diese Vereinfachungen greifen jedoch zu kurz und übersehen das Wesentliche.

Die gängige Annahme ist, dass diese Generation alte Werte über Bord wirft und nur noch für globale Themen lebt. Doch was, wenn der Schlüssel zum Verständnis nicht in der Ablehnung, sondern in einem komplexen Aushandlungsprozess liegt? Was, wenn die wahre Geschichte im permanenten Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit erzählt wird – zwischen dem Wunsch nach einem nachhaltigen Leben und dem Komfort digitaler Dienste, zwischen globaler Verantwortung und der Neuentdeckung lokaler Identität?

Dieser Artikel blickt als soziologische Analyse hinter die Kulissen der Schlagworte. Er untersucht die Megatrends Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Diversität nicht als isolierte Phänomene, sondern als treibende Kräfte, die im Alltag der Deutschen aufeinandertreffen, sich reiben und dabei eine neue, zukunftsfähige Kultur schmieden. Wir werden sehen, wie alte Bräuche neu interpretiert, die Widersprüche des grünen Lebensstils gelebt und die digitale Welt pragmatisch genutzt wird, um die Gesellschaft von morgen zu formen.

Der folgende Leitfaden führt Sie durch die zentralen Lebensbereiche, in denen dieser Wandel bereits heute sichtbar wird. Entdecken Sie ein Deutschland, das sich jenseits der Klischees neu erfindet.

Tradition trifft Trend: Wie junge Deutsche alte Bräuche neu interpretieren

Die Vorstellung, dass die junge Generation Traditionen pauschal ablehnt, ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Statt einer Verwerfung findet vielmehr eine kulturelle Synthese statt: Alte Bräuche werden nicht abgeschafft, sondern mit neuen Werten und globalen Einflüssen angereichert und somit relevant gehalten. Es geht nicht mehr um die starre Wiederholung von Ritualen, sondern um deren bewusste Neuinterpretation und Anpassung an die heutige Lebenswelt.

Ein hervorragendes Beispiel dafür findet sich in den 13 deutschen Weinbauregionen. Hier denken junge Winzerinnen und Winzer die überlieferten Traditionen des Weinbaus komplett neu. Sie kombinieren jahrhundertealtes Handwerk mit biologischem Anbau, modernen Marketingstrategien über soziale Medien und einem globalisierten Qualitätsanspruch. Der Weinberg wird so vom reinen Ort der Tradition zu einem Labor für nachhaltige Zukunftskonzepte. Wie die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT) hervorhebt, wird dadurch Kulturtourismus neu und attraktiv gestaltet, indem gelebte Traditionen einen modernen, nachhaltigen Anstrich bekommen.

Dieser Trend zur Neuinterpretation manifestiert sich auch bei großen gesellschaftlichen Ereignissen. So erhielt die UEFA EURO 2024 einen Sonderpreis des Deutschen Nachhaltigkeitspreises. Die Organisatoren haben vorbildlich ökologische und soziale Aspekte in die Planung eines kommerziellen Großevents integriert. Ein Fußballturnier, ein modernes Ritual, wird damit zu einem Träger neuer, zukunftsweisender Werte. Statt Tradition und Fortschritt als Gegensätze zu sehen, werden sie hier erfolgreich miteinander verbunden.

Diese Verbindung von Alt und Neu ist ein zentraler Baustein des modernen Deutschlands. Um die Tiefe dieser Entwicklung zu verstehen, lohnt es sich, die Prinzipien dieser kulturellen Synthese genauer zu betrachten.

Digital, divers, nachhaltig: Was die junge Generation in Deutschland wirklich bewegt

Um zu verstehen, was junge Menschen in Deutschland antreibt, muss man hinter die Fassade von TikTok-Videos und Klima-Demos blicken. Die Realität ist komplexer und von einem tiefen Spannungsfeld geprägt. Einerseits gibt es ein enormes Bewusstsein für globale Krisen, andererseits lastet ein immenser persönlicher Druck auf der Generation. So zeigt die Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“, dass 51 % der 14- bis 29-Jährigen unter erheblichem Stress leiden, bedingt durch Zukunftsängste, Leistungsdruck und die Folgen globaler Instabilität.

Dieser innere Druck formt die Werte und Prioritäten. Der Klimawandel ist dabei eine der größten Sorgen. Die gleiche Studie offenbart jedoch einen zentralen Wertewiderspruch, der diese Generation kennzeichnet. Die Autoren Schnetzer, Hampel & Hurrelmann fassen es prägnant zusammen:

Fast die Hälfte der Befragten (45%) sorgt sich um den Klimawandel und ist der Meinung, dass in Deutschland nicht genug zum Schutz der Umwelt getan wird. Gleichzeitig sind jedoch nur wenige bereit, für Nachhaltigkeit persönliche Opfer zu bringen.

– Schnetzer, Hampel & Hurrelmann, Trendstudie ‚Jugend in Deutschland 2024‘

Diese Aussage ist keine Anklage, sondern eine präzise Beschreibung des Dilemmas. Es ist der Konflikt zwischen dem Wissen um die Notwendigkeit von Veränderung und der menschlichen Schwierigkeit, liebgewonnene Gewohnheiten im komplexen Alltag aufzugeben. Dieses Ringen zwischen Idealismus und Pragmatismus ist der eigentliche Motor, der die junge Generation bewegt. Sie suchen nach Wegen, wirksam zu sein, ohne sich selbst zu überfordern. Die folgende Abbildung symbolisiert die drei zentralen Handlungsfelder – Digitalisierung, Diversität und Nachhaltigkeit – in denen dieser Aushandlungsprozess stattfindet.

Nahaufnahme junger Hände verschiedener Hautfarben, die gemeinsam ein Tablet halten, umgeben von nachhaltigen Materialien

Die Darstellung zeigt, wie diese Themen miteinander verwoben sind. Technologie dient als Werkzeug für Organisation und Information, der Zusammenhalt in der Vielfalt gibt Kraft, und das Streben nach Nachhaltigkeit gibt die Richtung vor. Es ist ein ständiges Balancieren, kein fertiges Programm.

Die Auseinandersetzung mit diesen inneren Werten und Widersprüchen ist fundamental. Es lohnt sich, die zentralen Beweggründe dieser Generation noch einmal zu reflektieren.

Weltmeister im Mülltrennen: Einblicke in den grünen Alltag und die Nachhaltigkeits-Seele der Deutschen

Das Klischee vom deutschen „Weltmeister im Mülltrennen“ hält sich hartnäckig und suggeriert ein tief verankertes Umweltbewusstsein. Die Realität im digitalen Zeitalter zeichnet jedoch ein deutlich widersprüchlicheres Bild. Während der Joghurtbecher sorgfältig ausgespült im gelben Sack landet, entsteht an anderer Stelle ein gewaltiger, unsichtbarer ökologischer Fußabdruck. Dieser Wertewiderspruch zwischen sichtbarer und unsichtbarer Umweltbelastung ist ein Kernmerkmal des modernen grünen Alltags.

Eine Erhebung des Augsburger Instituts für Generationsforschung verdeutlicht dieses Dilemma eindrucksvoll: Ein durchschnittlicher junger Mensch in Deutschland verbraucht rund 1500 Gigabyte Daten pro Jahr. Um den CO₂-Ausstoß dieser Datenmenge zu kompensieren, müssten jährlich etwa 60 Bäume gepflanzt werden. Die Nachhaltigkeitsbemühungen im physischen Raum – wie Mülltrennung oder der Kauf von Bio-Produkten – werden durch den digitalen Konsum konterkariert. Streaming, Cloud-Dienste und soziale Medien haben einen realen Energiehunger, der im Bewusstsein vieler noch nicht angekommen ist.

Es ist ein klassisches Beispiel für das Spannungsfeld zwischen Bequemlichkeit und Bewusstsein. Niemand möchte auf die Vorteile der digitalen Vernetzung verzichten, aber die ökologischen Kosten werden zunehmend thematisiert. Initiativen wie die Deutschen Aktionstage Nachhaltigkeit versuchen, dieses Bewusstsein zu schärfen. Im Jahr 2025 rücken sie mit dem Motto „Kann man Zukunft essen?“ das Thema Ernährung in den Fokus, ein weiterer Bereich voller Widersprüche. Diese Aktionen zeigen den gesellschaftlichen Willen, Nachhaltigkeit breiter zu verankern, doch die Umsetzung im individuellen Alltag bleibt ein permanenter Aushandlungsprozess.

Ihr Aktionsplan: Den eigenen Nachhaltigkeits-Widerspruch aufdecken

  1. Punkte der Reibung identifizieren: Listen Sie auf, wo Ihre Werte (z.B. Nachhaltigkeit) und Ihr Alltag (z.B. Online-Shopping, Streaming) kollidieren.
  2. Verhaltensmuster sammeln: Führen Sie für eine Woche ein einfaches Protokoll über Ihr Konsumverhalten, sowohl digital (Streaming-Stunden, Online-Bestellungen) als auch physisch (Autofahrten, Fleischkonsum).
  3. Wirkung konfrontieren: Vergleichen Sie die gesammelten Daten mit Ihren Nachhaltigkeitszielen. Wo ist die größte Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit?
  4. Verborgenes sichtbar machen: Recherchieren Sie den CO₂-Fußabdruck einer Ihrer digitalen Gewohnheiten (z.B. eine Stunde Netflix-Streaming). Dies schafft ein Bewusstsein für die unsichtbaren Kosten.
  5. Einen Hebel ansetzen: Wählen Sie einen einzigen, realistischen Punkt, den Sie ändern möchten (z.B. Streaming-Qualität reduzieren, einen Online-Kauf durch einen lokalen ersetzen), und setzen Sie diesen für einen Monat um.

Die Erkenntnis dieser Widersprüche ist der erste Schritt zur Veränderung. Die Analyse des eigenen grünen Alltags hilft dabei, über symbolische Handlungen hinauszukommen.

Digitales Deutschland: Wie das Internet den deutschen Alltag verändert (und wo es kläglich versagt)

Die junge Generation in Deutschland lebt nicht einfach nur „im Internet“, sie nutzt es mit einem ausgeprägten digitalen Pragmatismus. Technologie ist kein reines Unterhaltungsmedium, sondern ein Werkzeug zur Informationsbeschaffung, zur Selbstorganisation und zur kreativen Entfaltung. Die schnelle Adaption neuer Technologien wie Künstlicher Intelligenz ist dafür bezeichnend. Wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IWD) zeigt, kennen 85 % der Jugendlichen ChatGPT, und 38 % haben es bereits selbst ausprobiert. Dies deutet auf eine neugierige und anwendungsorientierte Haltung hin, nicht auf blinde Technikgläubigkeit.

Interessanterweise führt diese hohe digitale Kompetenz nicht zur Ablehnung traditioneller Informationsquellen. Ganz im Gegenteil: In einer Zeit von Fake News und Informationsflut scheinen verlässliche, kuratierte Quellen an Bedeutung zu gewinnen. Bei einem so wichtigen Thema wie dem Klimawandel offenbart sich ein hybrides Informationsverhalten.

Informationsquellen deutscher Jugendlicher zum Klimawandel
Informationsquelle Prozent der Nutzung
Schule 73%
Eltern 72%
Freunde 53%
Fernsehen/Streaming 46%
YouTube ~40%

Diese Daten zeigen deutlich: Trotz der Allgegenwart von Social Media und YouTube bleiben Schule und Elternhaus die mit Abstand wichtigsten Ankerpunkte für die Wissensvermittlung bei komplexen Themen. Dies widerlegt das Klischee der unkritischen, rein digital informierten Jugend und zeugt von einer bemerkenswerten Medienkompetenz, die verschiedene Quellen zu bewerten und zu kombinieren weiß.

Gleichzeitig offenbart die Digitalisierung in Deutschland ihre tiefen Risse. Während in den Metropolen Glasfasernetze und Co-Working-Spaces den Takt vorgeben, kämpfen ländliche Regionen oft noch mit schlechter Netzabdeckung. Dieser digitale Graben verschärft die soziale Ungleichheit und zeigt, wo die digitale Transformation Deutschlands an ihre Grenzen stößt. Das Versprechen des „Internets für alle“ ist noch lange nicht eingelöst.

Weite Landschaftsaufnahme zeigt Kontrast zwischen digitalem Stadtleben und ländlicher Realität in Deutschland

Die Kluft zwischen urbanem Fortschritt und ländlicher Abgehängtheit ist eine der größten Herausforderungen für ein digital souveränes Deutschland und beeinflusst die Lebensrealität junger Menschen maßgeblich.

Der pragmatische und zugleich kritische Umgang mit der Digitalisierung ist ein Schlüssel zum Verständnis. Die Facetten des digitalen Deutschlands zeigen sowohl enorme Potenziale als auch signifikante Defizite auf.

Deutschlands neue Vielfalt: Wie Migration das Gesicht und die Kultur der Städte verändert

Die zunehmende Vielfalt in Deutschland ist weit mehr als eine statistische Veränderung; sie ist ein fundamentaler Motor für kulturelle Innovation, besonders in den urbanen Zentren. Migration hat das Gesicht der deutschen Städte nachhaltig verändert und einen Prozess der kulturellen Synthese in Gang gesetzt, der weit über kulinarische Bereicherungen hinausgeht. Es entsteht eine neue, hybride Identität, in der verschiedene kulturelle Codes, Sprachen und Lebensstile miteinander verschmelzen und den Alltag neu definieren.

Diese neue Vielfalt führt auch zu einem Wandel im Selbstverständnis Deutschlands auf der internationalen Bühne. An die Stelle einer einseitigen Kulturvermittlung tritt zunehmend der Wunsch nach fairer und partnerschaftlicher Zusammenarbeit. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit nachhaltiger Kooperationen, insbesondere mit Ländern des Globalen Südens, ist gewachsen. Wie die deutsche UNESCO-Kommission berichtet, werden gezielt transkontinentale Partnerschaften zwischen Kultureinrichtungen gestärkt.

Solche Initiativen fördern Koproduktionen und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Anstatt Kultur nur zu „exportieren“, geht es darum, gemeinsame kreative Räume zu schaffen. Dieser Ansatz spiegelt sich im Kleinen auch im urbanen Alltag wider, wo aus dem Nebeneinander von Kulturen ein Miteinander wird. Musikfestivals, Kunstprojekte, Start-up-Szenen und soziale Initiativen in Städten wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt sind oft von dieser transkulturellen Energie geprägt. Sie sind die Labore, in denen die diverse Gesellschaft von morgen erprobt wird.

Diese Entwicklung ist nicht immer frei von Konflikten, aber sie ist unumkehrbar und eine der größten Stärken für die Zukunftsfähigkeit des Landes. Die Fähigkeit, Vielfalt als Ressource und nicht als Bedrohung zu begreifen, ist eine entscheidende Kompetenz, die in den deutschen Städten täglich gelebt und weiterentwickelt wird.

Die Gestaltung einer vielfältigen Gesellschaft ist ein kontinuierlicher Prozess. Die Mechanismen hinter Deutschlands neuer Vielfalt zu verstehen, ist entscheidend für den Blick in die Zukunft.

Digital, divers, nachhaltig: Die Werte der jungen Generation im Konsumalltag

Die inneren Werte und Sorgen der jungen Generation – Nachhaltigkeit, Stressbewältigung, digitale Vernetzung – manifestieren sich sehr konkret in ihrem Konsumverhalten. Jede Kaufentscheidung wird zu einem kleinen Statement, einem Teil des permanenten Aushandlungsprozesses zwischen Ideal und Alltag. Das Konsumverhalten ist somit ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Trends und der individuellen Prioritäten.

Ein zentraler Aspekt ist die Verschiebung vom Besitz zum Zugang und die wachsende Bedeutung des Second-Hand-Marktes. Plattformen wie Vinted oder Kleinanzeigen (ehemals eBay Kleinanzeigen) boomen nicht nur aus finanziellen Gründen. Sie verbinden mehrere Kernwerte: Nachhaltigkeit durch die Verlängerung des Produktlebenszyklus, ein bewussterer Umgang mit Ressourcen und oft auch die Freude an einzigartigen Fundstücken, die sich vom Mainstream abheben. Hier wird der Wertewiderspruch zwischen Konsumwunsch und ökologischem Gewissen praktisch aufgelöst.

Gleichzeitig treibt der Wunsch nach Bequemlichkeit und Effizienz das Online-Shopping weiter an. Die digitale Affinität führt zu klaren Präferenzen bei der Wahl der Einkaufskanäle. Eine Postbank-Studie zum digitalen Verhalten von Jugendlichen zeigt, dass beispielsweise bei Medienprodukten der Online-Handel dominiert. Hier wird deutlich, wie sehr die digitale Welt den physischen Handel in bestimmten Segmenten bereits verdrängt hat. Es ist ein klares Zeichen für den pragmatischen Einsatz digitaler Möglichkeiten zur Optimierung des eigenen Alltags.

Dieses Verhalten ist jedoch nicht unkritisch. Zunehmend rücken auch die sozialen und ökologischen Bedingungen der Online-Wirtschaft in den Fokus. Die Debatte um Arbeitsbedingungen bei Lieferdiensten oder die Verpackungsflut im E-Commerce zeigt, dass der digitale Pragmatismus mit einem wachsenden kritischen Bewusstsein einhergeht. Der Konsum wird so zu einem politischen Akt, bei dem Bequemlichkeit, Preis, Nachhaltigkeit und Ethik ständig neu gegeneinander abgewogen werden.

Das Konsumverhalten ist ein direktes Abbild der gesellschaftlichen Prioritäten. Eine genauere Betrachtung der täglichen Entscheidungen offenbart die wahren Treiber des Wandels.

Vom Döner zur veganen Bowl: Die spannendsten Food-Trends in deutschen Großstädten

Nirgendwo wird der kulturelle Wandel in Deutschland so sinnlich und unmittelbar erlebbar wie auf den Tellern der Großstädter. Die kulinarische Landschaft ist ein Seismograf für gesellschaftliche Veränderungen und erzählt die Geschichte von Migration, neuen Gesundheitsidealen und digitaler Selbstdarstellung. Die Entwicklung lässt sich symbolisch an einer Achse festmachen: vom Döner Kebab zur veganen Bowl.

Der Döner Kebab, in Berlin erfunden und perfektioniert, steht für die erste große Welle der Nachkriegsmigration und die erfolgreiche Integration türkischer Kultur in den deutschen Alltag. Er wurde von einem „fremden“ Gericht zu einem festen, beinahe ikonischen Bestandteil der deutschen Imbisskultur. Der Döner symbolisiert ein unkompliziertes, pragmatisches Miteinander und die erste Stufe einer kulinarischen Globalisierung von unten.

Die vegane Bowl hingegen repräsentiert die Megatrends der Gegenwart. Sie ist Ausdruck eines neuen Gesundheitsbewusstseins und des Wunsches nach nachhaltiger, pflanzenbasierter Ernährung. Gleichzeitig ist sie ein globales Phänomen, inspiriert von Küchen aus Hawaii, Asien und Kalifornien. Ihre sorgfältige, farbenfrohe Anrichtung macht sie zudem zum perfekten Objekt für Instagram. Sie ist nicht nur Nahrung, sondern auch ein Lifestyle-Statement und Teil der digitalen Identität. Die Bowl steht für eine bewusste, kuratierte und global vernetzte Esskultur.

Zwischen diesen beiden Polen hat sich in deutschen Städten eine unglaublich dynamische Food-Szene entwickelt. Street-Food-Märkte präsentieren authentische Gerichte aus aller Welt, von syrischem Schawarma über vietnamesische Pho bis hin zu israelischem Sabich. Gleichzeitig erleben regionale und traditionelle Produkte eine Renaissance, oft neu interpretiert und in modernen Konzepten wie „Farm-to-Table“-Restaurants präsentiert. Essen ist nicht mehr nur Nahrungsaufnahme, sondern ein zentraler Bestandteil sozialer Interaktion, kultureller Entdeckung und persönlicher Positionierung.

Die kulinarische Evolution der Städte ist ein faszinierender Mikrokosmos des gesellschaftlichen Wandels. Die Analyse dieser Food-Trends gibt Aufschluss über die Werte, die eine ganze Generation bewegen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Der Wandel in Deutschland wird durch das Aushandeln von Widersprüchen vorangetrieben, nicht durch eine einheitliche Ideologie.
  • Nachhaltigkeit und Digitalisierung sind die prägenden, aber oft gegensätzlichen Kräfte, die den modernen Alltag formen.
  • Tradition und Diversität verschmelzen zu einer neuen, hybriden deutschen Kultur, die am deutlichsten in den Städten sichtbar wird.

Der Puls der Zeit: Ein Wegweiser zur lebendigen und sich ständig wandelnden Kultur deutscher Städte

Wenn man den wahren Puls des heutigen Deutschlands fühlen will, muss man in die Städte gehen. Sie sind die Schmelztiegel, in denen die hier beschriebenen Aushandlungsprozesse stattfinden. In den urbanen Räumen verdichten sich die Spannungsfelder zwischen Nachhaltigkeit und Konsum, Tradition und globaler Vernetzung, digitalem Fortschritt und dem Bedürfnis nach realer Gemeinschaft. Die Zukunft Deutschlands wird nicht in politischen Grundsatzprogrammen entworfen, sondern im Alltag seiner Metropolen gelebt.

Hier manifestiert sich der Wandel in der Architektur, im Design, in der Mobilität und vor allem in der Kultur. Kulturelle Institutionen und kreative Akteure spielen dabei eine entscheidende Rolle. Sie sind nicht nur Unterhalter, sondern auch Impulsgeber und Moderatoren des gesellschaftlichen Wandels. Der Deutsche Kulturrat betont diese zentrale Funktion in einer Stellungnahme zur Nachhaltigkeitspolitik:

Der Kulturbereich kann mit seiner Expertise gerade auch im Design, in der Architektur und in der Stadtplanung einer der Motoren für die Nachhaltigkeitspolitik sein. Und er kann darüber hinaus die Diskursräume bieten, um den kulturellen Wandel für alle begreifbar zu machen.

– Deutscher Kulturrat, Kulturpolitischer Wochenreport

Diese Vision wird bereits Realität. Co-Working-Spaces werden zu Nachbarschaftszentren, stillgelegte Fabriken zu Kulturorten und städtische Brachflächen zu Gemeinschaftsgärten. Der öffentliche Raum wird neu verhandelt und kreative Lösungen für ökologische und soziale Herausforderungen erprobt. Die Bundesregierung versucht, diese Entwicklungen in strategischen Rahmenwerken wie der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie zu bündeln, die sechs zentrale Transformationsbereiche für das Land definiert. Doch die wahre Dynamik entsteht von unten – aus der Energie einer Generation, die gelernt hat, in Widersprüchen zu leben und diese produktiv zu gestalten.

Um die gesellschaftliche Entwicklung zu verstehen, ist es unerlässlich, die fundamentalen Werte und inneren Konflikte zu kennen, die als Motor für diesen Wandel dienen.

Für Beobachter gesellschaftlicher Trends bedeutet dies: Richten Sie Ihren Blick auf die kleinen Zeichen im Alltag, auf die innovativen Nischen und die kreativen Projekte in den Städten. Hier, im permanenten Aushandeln zwischen Anspruch und Wirklichkeit, schlägt der wahre Puls des zukünftigen Deutschlands.

Geschrieben von Florian Krause, Florian Krause ist ein freier Kulturjournalist und Stadt-Chronist, der seit über 8 Jahren die urbanen Szenen in Berlin, Hamburg und Leipzig dokumentiert. Seine Spezialität sind die verborgenen Geschichten hinter Fassaden und die kulinarischen Geheimtipps der Einheimischen.