Veröffentlicht am Mai 11, 2024

Entgegen der Annahme, deutsche Kunstgeschichte sei eine trockene Abfolge von Stilen, ist sie in Wahrheit eine dramatische Erzählung, geformt von Glaubenskriegen, Machtdemonstrationen und nationalen Katastrophen.

  • Architektur diente als politisches Statement – von den Macht demonstrierenden Domen des Mittelalters bis zur transparenten Demokratie-Architektur der Nachkriegszeit.
  • Die Malerei wurde zum Spiegel der Seele, besonders im Expressionismus, der innere Gefühlswelten über die äußere Realität stellte.

Empfehlung: Betrachten Sie Gebäude und Kunstwerke nicht nur als Objekte, sondern als Zeitzeugen. Fragen Sie sich: Welche Geschichte von Macht, Glauben oder Hoffnung wollte der Erschaffer hiermit erzählen?

Stehen Sie auch manchmal vor einer imposanten Kirche in einer deutschen Altstadt und fragen sich: „Ist das jetzt Romanik, Gotik oder doch schon Barock?“ Sie sind nicht allein. Deutschlands Städte und Museen sind Schatzkammern, doch ohne einen Schlüssel zu ihrer Formensprache bleiben viele ihrer faszinierendsten Geschichten verschlossen. Oft begnügt man sich mit oberflächlichen Merkmalen – runde Bögen hier, spitze dort. Doch das ist nur die halbe Wahrheit und kratzt kaum an der Oberfläche dessen, was diese Mauern und Leinwände zu erzählen haben.

Was wäre, wenn der wahre Schlüssel zum Verständnis nicht im bloßen Erkennen von Stilen liegt, sondern im Verstehen der Kräfte, die sie geformt haben? Die deutsche Kunst- und Architekturgeschichte ist kein stilles Museum, sondern ein lautes Echo von Machtkämpfen, tiefem Glauben, revolutionären Ideen und tiefen gesellschaftlichen Wunden. Jede Epoche, jeder Stil ist eine Antwort auf die drängenden Fragen seiner Zeit. Der prunkvolle bayerische Barock ist ohne die Gegenreformation nicht zu denken, die kühle Funktionalität des Bauhaus nicht ohne die Traumata des Ersten Weltkriegs und die Sehnsucht nach einer neuen, besseren Welt.

Dieser Artikel nimmt Sie an die Hand und wird zu Ihrem persönlichen Kunstgeschichte-Professor auf Reisen. Wir werden nicht nur Stilmerkmale auflisten. Wir werden die roten Fäden aufzeigen, die sich durch die Jahrhunderte ziehen. Sie werden lernen, warum dicke Mauern von Glaubenszweifeln erzählen und wie die Expressionisten die Farben der Seele auf die Leinwand brachten. Wir entschlüsseln, wie die revolutionären Ideen des Bauhaus bis heute Ihren Alltag prägen und warum Kunst im öffentlichen Raum in Deutschland oft hitzige Debatten auslöst. Am Ende dieser Reise werden Sie Gebäude nicht mehr nur sehen, sondern lesen können.

Um diese faszinierende Reise durch die deutsche Kunst- und Kulturlandschaft zu strukturieren, folgt der Artikel den entscheidenden Epochen und Themen. Der nachfolgende Sommaire gibt Ihnen einen Überblick über die Stationen unserer Erkundung.

Von Caspar David Friedrich bis Gerhard Richter: Ein Crashkurs in deutscher Malerei

Die deutsche Malerei ist ein faszinierendes Panorama menschlicher Emotionen und historischer Umbrüche. Sie beginnt für viele mit der tiefgründigen Innerlichkeit der Romantik. Künstler wie Caspar David Friedrich malten keine bloßen Landschaften, sondern Seelenzustände. Seine berühmten Rückenfiguren, die in die weite, oft neblige Natur blicken, sind nicht nur Abbilder der Ostseeküste, sondern Metaphern für die menschliche Existenz, die Sehnsucht und die Suche nach dem Göttlichen im Irdischen. Es ist eine Malerei der Stille und Kontemplation, eine Reaktion auf die als kalt empfundene Rationalität der Aufklärung.

Ein Jahrhundert später, im pulsierenden Berlin der Kaiserzeit, vollzog sich ein radikaler Wandel. Die deutschen Impressionisten, allen voran Max Liebermann, wandten sich vom Inneren ab und dem flüchtigen Moment des Alltags zu. Statt nebliger Felsen malten sie Biergärten, Strandszenen und die arbeitende Bevölkerung. Ihr Ziel war es nicht mehr, die ewige Seele, sondern den vergänglichen Augenblick im Licht einzufangen. Dieser Wandel spiegelt den gesellschaftlichen Umbruch wider: die Abkehr von adeliger und kirchlicher Dominanz hin zu einem erstarkenden Bürgertum und der aufkommenden Moderne.

Künstlerisches Porträt verschiedener deutscher Kunstepochen in einer Atelierszene

Zwischen Friedrichs kontemplativer Romantik und Liebermanns urbaner Vitalität liegt eine Revolution des Sehens. Die Themen verschieben sich von der metaphysischen Natur zum bürgerlichen Leben, die Maltechnik von fein ausgearbeiteten Details zu einem lockeren, skizzenhaften Pinselstrich, der das Flimmern des Lichts einfängt. Diese Entwicklung zeigt, wie eng die Kunst mit dem jeweiligen Zeitgeist verbunden ist und als sensibles Barometer für gesellschaftliche Veränderungen dient.

Dicke Mauern, spitze Bögen: Woran Sie die großen Architektur-Epochen in Deutschland sofort erkennen

Wer durch Deutschland reist, unternimmt unweigerlich eine Zeitreise durch die Architekturgeschichte. Um die Sprache der Steine zu verstehen, genügt oft schon ein Blick auf wenige, aber entscheidende Merkmale. Die Romanik, die Epoche der großen Kaiserdome in Speyer, Mainz und Worms, präsentiert sich als Architektur des Glaubens und der Wehrhaftigkeit. Ihre Gebäude sind wie Festungen Gottes: extrem dicke Mauern, kleine, rundbogige Fenster und ein wuchtiger, erdverbundener Gesamteindruck. Diese Bauweise war nicht nur statisch bedingt, sie spiegelte auch eine Zeit der Unsicherheit wider, in der die Kirche Schutz und Stabilität symbolisieren musste.

Die Gotik hingegen strebt zum Himmel. Wie die Experten von Planet Schule hervorheben, ermöglichte ein neues Konstruktionsprinzip mit Spitzbögen und Kreuzrippengewölben eine Revolution: „Im 12. Jahrhundert wuchsen in Europa riesige Kathedralen – ein neues Konstruktionsprinzip ermöglicht der Gotik hohe Räume und große Fenster.“ Der Kölner Dom ist das monumentalste Beispiel in Deutschland. Die Mauern lösen sich auf, ersetzt durch riesige, farbenprächtige Glasfenster, die die Innenräume mit einem mystischen Licht fluten. Dies war eine theologische Machtdemonstration: Gott ist Licht, und die Kathedrale wird zu einem steinernen Abbild des himmlischen Jerusalems. Die Backsteingotik der Hansestädte wie Lübeck oder Stralsund zeigt eine faszinierende regionale Variante dieses himmelsstrebenden Stils.

Der folgende Überblick hilft Ihnen dabei, die wichtigsten Epochen auf Ihrer nächsten Reise schnell und sicher zu identifizieren.

Erkennungsmerkmale deutscher Architektur-Epochen
Epoche Zeitraum Charakteristische Merkmale Regionale Beispiele
Romanik 1000-1200 Dicke Mauern, Rundbögen, kleine Fenster Speyerer Dom, Mainzer Dom
Gotik 1200-1500 Spitzbögen, hohe Räume, große Fenster Kölner Dom, Backsteingotik Lübeck
Renaissance 1500-1650 Symmetrie, antike Elemente, Giebel Weserrenaissance Hameln
Barock 1650-1750 Prunk, Bewegung, Stuckarbeiten Dresdner Zwinger, Bayerischer Barock
Klassizismus 1750-1850 Klare Linien, griechische Säulen Brandenburger Tor Berlin

Form folgt Funktion: Was war das Bauhaus und warum ist es heute noch so einflussreich?

Obwohl es nur für kurze Zeit existierte, hat kaum eine Kunstschule die Welt so nachhaltig geprägt wie das Bauhaus. Gegründet 1919 von Walter Gropius in Weimar, war es mehr als nur eine Institution; es war eine revolutionäre Idee. Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs wollte man eine radikal neue Ästhetik schaffen, die Kunst und Handwerk wieder vereint und den Alltag der Menschen verbessert. Das berühmte Motto „Form folgt Funktion“ bedeutete das Ende überflüssiger Ornamente. Ein Stuhl sollte nicht prunkvoll, sondern vor allem bequem und industriell herstellbar sein. Ein Gebäude sollte seinen Zweck optimal erfüllen und durch klare Linien und ehrliche Materialien bestechen.

Die Schule vereinte die größten Talente ihrer Zeit – von Wassily Kandinsky und Paul Klee in der Malerei bis zu Marcel Breuer im Möbeldesign. Sie schufen nicht nur einzelne Objekte, sondern strebten nach dem Gesamtkunstwerk, in dem Architektur, Innenarchitektur, Produktdesign und Kunst eine harmonische Einheit bilden. Diese interdisziplinäre Herangehensweise war damals absolut neuartig und ist heute in Designhochschulen weltweit Standard. Der Einfluss des Bauhaus steckt in Ihren Apple-Produkten, in den klaren Linien von IKEA-Möbeln und in der serifenlosen Schriftart, die Sie gerade lesen.

Die enorme Wirkung des Bauhaus ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Schule laut historischen Quellen nur knapp 14 Jahre (von 1919 bis 1933) existierte, bevor sie von den Nationalsozialisten zur Schließung gezwungen wurde. Doch die Vertreibung wurde paradoxerweise zum Motor ihrer globalen Verbreitung.

Fallbeispiel: Die Bauhaus-Diaspora als globaler Motor

Nach der Schließung 1933 emigrierten führende Bauhaus-Mitglieder und trugen ihre Ideen in die Welt. Walter Gropius und Marcel Breuer prägten als Dozenten die Harvard Graduate School of Design in den USA. Ludwig Mies van der Rohe formte das Illinois Institute of Technology in Chicago und wurde zum Vater der amerikanischen Hochhaus-Architektur. Josef und Anni Albers lehrten am Black Mountain College in North Carolina. Diese unfreiwillige Diaspora sorgte dafür, dass die Bauhaus-Prinzipien nicht nur überlebten, sondern Generationen von Architekten und Designern weltweit beeinflussten und die Ästhetik der Moderne maßgeblich definierten.

Kunst für alle – oder Ärgernis? Die Debatte um Kunst im öffentlichen Raum in Deutschland

Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Deutschland vor der Aufgabe, nicht nur Städte, sondern auch eine demokratische Identität neu aufzubauen. Kunst sollte dabei eine zentrale Rolle spielen. Sie sollte nicht mehr nur in den elitären Räumen von Museen und Palästen stattfinden, sondern für jeden Bürger im Alltag zugänglich und sichtbar sein. Der Gedanke der „Kunst für alle“ war geboren und wurde zu einem wichtigen Pfeiler der bundesdeutschen Kulturpolitik. Dieser Anspruch führte zu einer lebendigen und oft kontroversen Auseinandersetzung mit Kunstwerken auf Plätzen, vor öffentlichen Gebäuden und in Parks.

Anders als in vielen Ländern ist die Präsenz von Kunst im öffentlichen Raum in Deutschland oft gesetzlich verankert. Das Instrument der „Kunst am Bau“ schreibt vor, dass ein bestimmter Prozentsatz der Bausumme bei öffentlichen Neubauten für Kunstwerke verwendet werden muss. Dies hat über Jahrzehnte zu einem reichen und vielfältigen Bestand an Skulpturen und Installationen geführt. Doch was als demokratische Geste gedacht ist, führt nicht selten zu heftigen Debatten. Die zentrale Frage lautet: Wem gehört der öffentliche Raum? Und wer entscheidet, was gute Kunst ist? Skulpturen, die von den einen als Bereicherung gefeiert werden, empfinden andere als Verschandelung oder Geldverschwendung.

Moderne Skulptur im städtischen Kontext mit Passanten in einer deutschen Stadt

Diese Auseinandersetzungen sind jedoch kein Zeichen des Scheiterns, sondern ein Symptom einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Sie zeigen, dass Kunst im öffentlichen Raum eben nicht nur Dekoration ist, sondern Denkanstöße gibt, Identität stiftet und Menschen ins Gespräch bringt. Von Henry Moores Skulptur vor dem ehemaligen Bundeskanzleramt in Bonn bis zu Jonathan Borofskys „Molecule Man“ in der Berliner Spree – diese Werke sind Teil der deutschen Gedächtnislandschaft geworden.

Aktionsplan: Wie Kunst in den öffentlichen Raum kommt

  1. Verankerung im Gesetz: Die „Kunst am Bau“-Regelung sichert ein festes Budget bei öffentlichen Bauvorhaben.
  2. Demokratische Auswahl: Unabhängige Kunstkommissionen und offene Wettbewerbe sollen für Qualität und Transparenz sorgen.
  3. Städtebauliche Integration: Kunst wird frühzeitig in die Planung von neuen Stadtvierteln oder Plätzen einbezogen.
  4. Bürgerbeteiligung: Bei besonders prominenten oder kontroversen Projekten werden zunehmend die Bürger in den Entscheidungsprozess eingebunden.
  5. Nachhaltige Pflege: Öffentliche Träger sind für die kontinuierliche Instandhaltung und den Erhalt der Kunstwerke verantwortlich.

Die Farben der Seele: Warum der deutsche Expressionismus die Kunstwelt für immer veränderte

Anfang des 20. Jahrhunderts brodelte es in Deutschland. Die Industrialisierung, die wachsende Anonymität der Großstädte und eine tiefe spirituelle Verunsicherung führten zu einem Aufschrei der jungen Künstlergeneration. Sie wollten nicht mehr die schöne, heile Oberfläche abbilden, die der Impressionismus feierte. Sie wollten das Innere nach außen kehren, die rohen, ungefilterten Emotionen sichtbar machen. Der Expressionismus war geboren – eine Kunst, die nicht das Auge, sondern die Seele ansprechen sollte. Künstlergruppen wie „Die Brücke“ in Dresden und „Der Blaue Reiter“ in München wurden zu den Zentren dieser Revolution.

Die Expressionisten brachen radikal mit den traditionellen Regeln der Kunst. Die Farbe wurde von ihrer dienenden Funktion, die Realität abzubilden, befreit. Plötzlich konnte ein Himmel gelb, ein Gesicht grün oder ein Baum blau sein – entscheidend war einzig die emotionale Ausdruckskraft. Perspektive und Proportionen wurden verzerrt, um innere Zustände wie Angst, Ekstase oder Einsamkeit zu steigern. Ernst Ludwig Kirchner malte fiebrige, nervöse Straßenszenen Berlins, Franz Marc suchte in Tierbildern nach einer reineren, spirituellen Welt, und Emil Nolde schuf religiöse Szenen von archaischer Wucht.

Diese kraftvolle, subjektive Kunst wurde vom aufkommenden Nationalsozialismus als Bedrohung empfunden. Sie passte nicht in das propagierte Bild eines gesunden, heroischen und arischen Menschen. Die Bundeszentrale für politische Bildung fasst die Ideologie dahinter zusammen:

Als ‚entartet‘ galten dem NS-Regime alle kulturellen Strömungen, deren Ästhetik ihnen als ‚undeutsch‘ erschien und nicht in das von ihnen propagierte Menschenbild passte. Das galt unter anderem für den Kubismus, den Expressionismus, die Neue Sachlichkeit und den Dadaismus.

– Bundeszentrale für politische Bildung, Vor 80 Jahren: Ausstellung ‚Entartete Kunst‘

Die Folgen waren katastrophal. Laut Forschung des Brücke-Museums wurden im Zuge der Aktion „Entartete Kunst“ allein 1082 Werke von Emil Nolde und Hunderte Werke von Schmidt-Rottluff und Heckel beschlagnahmt, verkauft oder zerstört. Doch die Nazis konnten den Geist des Expressionismus nicht auslöschen. Nach dem Krieg wurde er zu einem Symbol des künstlerischen Widerstands und beeinflusste nachfolgende Künstlergenerationen auf der ganzen Welt.

Von Caspar David Friedrich bis Gerhard Richter: Ein Crashkurs in deutscher Malerei

Der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs hinterließ auch in der deutschen Kunst eine tiefe Wunde. Nach 1945 standen Künstler vor der Frage, wie man nach Auschwitz überhaupt noch malen könne. Die unbeschwerte Ästhetik der Vorkriegsmoderne schien unmöglich. Viele Künstler, die während der NS-Diktatur in die „Innere Emigration“ gegangen waren, also unpolitische Motive malten, konnten nun wieder freier arbeiten. Doch die deutsche Kunst war gespalten, genau wie das Land selbst.

p>Die Aktion „Entartete Kunst“ war ein beispielloser Kahlschlag. Wie die Bundeszentrale für politische Bildung dokumentiert, wurden während der „Säuberungsaktionen“ über 20.000 Kunstwerke von etwa 1.400 Künstlern aus deutschen Museen entfernt. Dieser Verlust traf die Avantgarde ins Mark und schuf ein Vakuum, das die Nachkriegskunst auf unterschiedliche Weise zu füllen versuchte. Im Westen orientierte man sich an den internationalen Strömungen wie der abstrakten Malerei, während in der DDR der „Sozialistische Realismus“ zur Staatsdoktrin erhoben wurde.

Aus dieser Zerrissenheit erwuchsen jedoch Künstler von Weltrang, die sich mit der deutschen Vergangenheit und Identität auseinandersetzten. Joseph Beuys erweiterte den Kunstbegriff radikal mit seinen Performances und Installationen und vertrat die These, dass „jeder Mensch ein Künstler“ sei. Anselm Kiefer schuf monumentale, materialreiche Gemälde, die sich schonungslos mit der deutschen Geschichte und Mythologie auseinandersetzen. Und Gerhard Richter, der aus der DDR in den Westen floh, wurde zu einer der Schlüsselfiguren der zeitgenössischen Malerei. Sein Werk ist ein ständiges Befragen des Mediums Malerei selbst – von fotorealistischen Gemälden nach unscharfen Fotos bis hin zu radikal abstrakten Rakelbildern. Er zeigt, dass die deutsche Malerei nach allen Katastrophen ihre Relevanz und ihre Fähigkeit, die komplexen Fragen der Gegenwart zu verhandeln, nie verloren hat.

Das Lächeln der Engel: Woran Sie die überbordende Pracht des bayerischen Barock erkennen

Wenn Sie von der strengen Klarheit norddeutscher Backsteingotik in eine bayerische Wallfahrtskirche treten, betreten Sie eine andere Welt. Hier explodiert die Kunst förmlich in einem Rausch aus Gold, Stuck und Deckenfresken. Der bayerische Barock, der im späten 17. und 18. Jahrhundert seine Blütezeit erlebte, ist ein Fest für die Sinne. Putten und Engel scheinen von den Decken zu schweben, Marmor ist oft nur gemalt (Stuckmarmor), und die gesamte Architektur scheint in Bewegung zu sein. Diese überbordende Pracht ist kein Zufall, sondern Programm: Es war die triumphale Antwort der katholischen Kirche auf die nüchterne Strenge der protestantischen Reformation.

Die Gläubigen sollten nicht durch das Wort, sondern durch das Gefühl und die überwältigende Schönheit an den Himmel auf Erden erinnert und emotional an die Kirche gebunden werden. Alles verschmilzt zu einem theatralischen Gesamtkunstwerk. Die Architektur bildet die Bühne, die Stuckarbeiten liefern die Kulissen und die Fresken an der Decke öffnen den Blick in den Himmel. Nichts wird dem Zufall überlassen, alles dient dem großen Drama des Glaubens. Berühmte Beispiele wie die Wieskirche oder die Klosterkirche Weltenburg sind perfekte Orte, um diese sinnliche Inszenierung zu erleben.

Fallbeispiel: Die Künstlerfamilien des bayerischen Barock

Die Gestaltung dieser Gesamtkunstwerke lag oft in den Händen ganzer Künstlerdynastien. Die Brüder Asam (Cosmas Damian und Egid Quirin) waren Meister des dramatisch-düsteren Barocks. Ihre Kirchen, wie die Asamkirche in München, nutzen starke Licht-Schatten-Kontraste, um eine fast mystische, theatralische Atmosphäre zu schaffen. Im Gegensatz dazu steht Johann Baptist Zimmermann, der einen helleren, leichteren und eleganteren Stil pflegte, der bereits zum Rokoko überleitet. Diese Künstler waren nicht nur Architekten, sondern auch Stuckateure und Freskenmaler, die ihre Vision vom Himmel auf Erden aus einer Hand realisierten.

Diese emotionale und volksnahe Ausprägung des Barock unterscheidet sich deutlich vom höfisch-repräsentativen Barock, wie man ihn etwa im Dresdner Zwinger findet. In Bayern sollte der Himmel für jeden erlebbar sein, und sei es nur für den Moment eines Gottesdienstes. Das Lächeln der Stuck-Engel ist eine Einladung, in diese Welt der Freude und des Glaubens einzutauchen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Stile sind Antworten: Jede Kunst- und Architekturepoche reagiert auf die gesellschaftlichen, religiösen und politischen Bedingungen ihrer Zeit.
  • Form und Funktion: Von der wehrhaften Romanik bis zum funktionalen Bauhaus erzählt die Form immer eine Geschichte über den Zweck und die Weltsicht der Erbauer.
  • Kunst als Gedächtnis: Deutsche Kunst und Architektur sind eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der eigenen, oft schmerzhaften Geschichte – von der Verfolgung „entarteter Kunst“ bis zum Wiederaufbau zerstörter Wahrzeichen.

Spuren in Stein: Eine Reise durch Deutschlands faszinierendes und vielschichtiges Kulturerbe

Unsere Reise durch 1000 Jahre deutscher Kunstgeschichte zeigt: Gebäude und Bilder sind weit mehr als nur ästhetische Objekte. Sie sind eine Form des kollektiven Gedächtnisses, eine in Stein und Farbe gemeißelte Chronik der deutschen Geschichte. Nirgendwo wird dies deutlicher als im Umgang mit den Wunden, die Kriege und Diktaturen hinterlassen haben. Das Schicksal der Dresdner Frauenkirche ist hierfür das wohl ergreifendste Symbol und ein Meisterwerk der deutschen Gedächtnislandschaft.

Nach ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg blieb die Ruine jahrzehntelang als Mahnmal im Herzen der Stadt liegen. Nach der Wiedervereinigung begann der Wiederaufbau, der zu einer archäologischen Meisterleistung wurde. Der riesige Trümmerberg wurde systematisch abgetragen, und über 8.000 Originalsteine konnten geborgen, katalogisiert und wieder an ihrem ursprünglichen Platz eingesetzt werden. Das Ergebnis ist eine Kirche, die zugleich alt und neu ist. Die hellen, neuen Sandsteine vermischen sich mit den dunklen, feuergeschwärzten Originalsteinen und erzählen so für jeden sichtbar die Geschichte von Zerstörung und Heilung.

Dieses Beispiel steht stellvertretend für einen zentralen Aspekt des deutschen Kulturerbes. Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu tilgen oder eine makellose Idylle zu rekonstruieren. Es geht um eine ehrliche Auseinandersetzung mit allen Facetten der Geschichte. Die Entscheidung, bei der Frauenkirche laut offiziellen Angaben der Stadt Dresden rund 40 Prozent der Original-Bausubstanz wiederzuverwenden, war eine bewusste Absage an einen reinen Neubau. Sie machte den schmerzhaften Verlust zum integralen Bestandteil der neuen, alten Kirche. So wird Architektur zu einem lebendigen Geschichtsbuch, das von Widerstandsfähigkeit und der komplexen Aufgabe des Erinnerns erzählt.

Nutzen Sie bei Ihrer nächsten Reise durch Deutschland diesen Leitfaden, um die Geschichten zu entschlüsseln, die in den Steinen und auf den Leinwänden geschrieben stehen. Jedes Detail, das Sie erkennen, wird Ihre Reise bereichern und Ihren Blick auf das Land nachhaltig verändern.

Häufige Fragen zum bayerischen Barock

Warum ist der bayerische Barock so prunkvoll?

Die opulente Pracht war ein gezieltes Programm der Gegenreformation – die katholische Kirche wollte durch überwältigende Sinneseindrücke die Gläubigen emotional an den Glauben binden.

Woran erkenne ich die Handschrift der Asam-Brüder?

Ihr Stil ist meist düsterer und dramatischer, mit dunklen Farbtönen und theatralischen Lichteffekten in Stuck und Fresken.

Was unterscheidet den bayerischen vom sächsischen Barock?

Der bayerische Barock wirkt ländlich-verspielt und emotional, während der sächsische Barock (Dresdner Zwinger) repräsentativer und höfischer ausgerichtet ist.

Geschrieben von Florian Krause, Florian Krause ist ein freier Kulturjournalist und Stadt-Chronist, der seit über 8 Jahren die urbanen Szenen in Berlin, Hamburg und Leipzig dokumentiert. Seine Spezialität sind die verborgenen Geschichten hinter Fassaden und die kulinarischen Geheimtipps der Einheimischen.